„Neue Zürcher Zeitung“: Die 15-jährige Lara möchte Primaballerina werden. Sie wurde als Junge geboren. Der Belgier Lukas Dhont debütiert mit einem meisterhaften Film über die Kompromisslosigkeit der Jugend.
Das Poster zu Lukas Dhonts Film «Girl» erinnert an das Gemälde eines flämischen Meisters. Es zeigt die grazile Hauptfigur im Halbprofil. Anstatt eines Perlenohrrings bildet Laras goldener Ohrstecker den Mittelpunkt. Die kleine Kugel ist mehr als ein Schmuckstück. In einer Anfangsszene steht Lara (Victor Polster) im Badezimmer vor dem Spiegel und sticht sich mit einer Nadel Ohrlöcher. Ihr Vater (Arieh Worthalter) findet die Aktion gar nicht gut, aber Lara zuckt nicht einmal. Die zarte 15-Jährige hat sich entschieden. Sie möchte eine Primaballerina werden und ein Mädchen sein. Auf dem Weg dorthin ist ihr Körper ihr stärkster Verbündeter und ärgster Feind zugleich.
Ein Leben auf Probe
Laras ist ausser sich vor Freude. Sie wurde an der renommiertesten Ballettschule Belgiens aufgenommen. Allerdings nur auf Probe, denn ihre Füsse sind nicht an den Spitzentanz gewohnt. Bis vor kurzem war sie noch ein Junge, hat nun mit der Hormontherapie begonnen. Lara ist ungeduldig. Sie will sich nicht länger als Frau auf Probe fühlen. Ihr Vater und der Therapeut beteuern: Du bist doch schon ein Mädchen.
Aber Lara weiss es besser. Sie mutet sich unsagbare Qualen zu, um ihren Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Ihrer Umwelt präsentiert sie ein sanftes Lächeln als Schutzschild. Das Mädchen darf sich keine Schwäche erlauben. Nur als der kleine Bruder sie im Streit bei ihrem alten Jungennamen nennt, bröckelt die Fassade. Dann aber gefährden die Strapazen der Ballettausbildung die geplante Operation für Laras Geschlechtsumwandlung. Einen Traum für den anderen opfern? Das kommt für das Mädchen nicht infrage.
Dhonts Debütfilm ist ein Ereignis. Zärtlich und unerbittlich erkundet der junge Belgier das emotionale Schlachtfeld der Jugend. Denn obwohl Lara im falschen Körper geboren wurde, ist «Girl» vor allem ein Film über die Pubertät. Deren Themen – die körperliche und emotionale Entfremdung und Neuentdeckung des eigenen Ichs – werden durch die Transsexualität der Hauptfigur nur noch verstärkt. Der Regisseur und Drehbuchautor Dhont zeigt, wie kompromisslos, besessen und brutal gegen sich selbst Teenager sein können. Gegen Ende mutet der Film auch dem Zuschauer viel zu. Aber das sollte niemanden vom Kinobesuch abhalten.
Dhont ist mit der Besetzung von Victor Polster ein aussergewöhnlicher Glücksgriff gelungen. Es ist kaum zu fassen, dass der 2002 in Brüssel geborene Balletttänzer mit «Girl» ebenfalls sein Kinodebüt gibt. Er verkörpert Lara mit aufwühlender Selbstverständlichkeit. Alle Dramatik wird verinnerlicht, an die Oberfläche dringt nur selten etwas. All das und noch viel mehr vermag Polster auf der Leinwand zu zeigen, ohne Lara für nur einen Moment Klischees preiszugeben.
Preissegen und Oscar-Hoffnungen
«Girl» lief am diesjährigen Filmfestival Cannes in der Reihe Un Certain Regard; Dhont erhielt die Caméra d’Or für den besten Debütfilm, Polster wurde für die beste schauspielerische Leistung geehrt. Ausserdem gab es den unabhängig vergebenen LGBT-Preis Queer Palm. Und das Zurich Film Festival hat «Girl» jüngst mit dem Hauptpreis in der Kategorie internationaler Spielfilm ausgezeichnet.
Vielleicht ist das alles erst der Anfang. Belgien schickt Dhonts Werk ins Rennen um den Oscar für den besten nichtenglischsprachigen Film. Der einflussreiche Streaming-Dienst Netflix hat sich in Cannes die Rechte für Nordamerika gesichert und will den Film zur Awards Season in die US-Kinos bringen. Zwar wurden Warnungen laut, «Girl» könnte in den Vereinigten Staaten auf ein Echo stossen, das ihm weniger gewogen sei als jenes in Europa. Der Grund: Dhont hat keinen transsexuellen Darsteller für die Hauptrolle gewählt. Scarlett Johanssons Besetzung als Transgender-Mann in «Rub and Tug» hatte jüngst für Empörung und ihren Ausstieg gesorgt. Aber so begrüssenswert Hollywoods jüngste Sensibilisierung in Geschlechterfragen auch ist: Dieses Mädchen wird für sich selbst sprechen.
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Quelle: „Neue Zürcher Zeitung“ (18. Oktober 2018), NZZ.ch
Bilder: Menuet / Universum Filmverleih
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