
Eiskunstlauf ist ein brutaler Sport. Vielleicht war es kein Zufall, dass Tonya Hardings Mutter sie als kleines Mädchen aufs Eis geschickt hat. Dort erwies sich Harding als Ausnahmetalent. Die US-Meisterin stand als erste Frau während eines Wettbewerbs den dreifachen Axel. 1994 winkte eine olympische Medaille. Die Sportlerin aus ärmlichen Verhältnissen suchte vergebens nach Anerkennung.
Sie wurde von der Mutter geschlagen, vom Ehemann angeschossen und von den Preisrichtern als White-Trash-Trampel mit niedrigen Stilnoten im Zaum gehalten. Und dann kam der Skandal, der Harding bis heute verfolgt. «I, Tonya» versucht, die komplexe Geschichte dieser Ausnahmeathletin auszuloten. Dabei geht er ausgerechnet ihren Peinigern auf den Leim.
Aussage gegen Aussage
Wenige Wochen vor den Winterspielen in Lillehammer von 1994 schlug ein Mann Hardings Konkurrentin Nancy Kerrigan mit einem Schlagstock gegen das Knie. Hinter dem Attentat steckte Hardings Ex-Mann Jeff Gillooly. Sie wurde wegen Behinderung der Ermittlungen verurteilt und lebenslang von Meisterschaften ausgeschlossen, was einem Berufsverbot gleichkam. Ob und wie sehr Harding in die Tat eingeweiht war, ist bis heute umstritten.
Der Autor Steven Rogers interviewte das Ex-Paar für den Film. Inspiriert von ihren widersprüchlichen Aussagen, wählte er den Stil einer Mockumentary, bei der sich die Interviewten direkt an den Zuschauer wenden. «Beruhend auf ironiefreien, extrem widersprüchlichen, total wahren Gesprächen» – dieser Hinweis zu Beginn des Films gibt nicht nur die Form, sondern auch den Ton vor.
Regisseur Craig Gillespie («Lars and the Real Girl») beginnt in der Gegenwart. Hinter Harding (Margot Robbie) stapelt sich das dreckige Geschirr. Sie erzählt, wie ihre kettenrauchende und ständig alkoholisierte Mutter LaVona Golden (Allison Janney) einst im Streit ein Messer nach ihr warf. Von ihrem ersten Freund und späteren Mann Gillooly (Sebastian Stan) setzte es regelmässig Prügel, nach der Trennung schoss er gar auf sie.
Die Brutalität wird in gewissem Mass gezeigt. Dennoch ist «I, Tonya» mehr schwarze Komödie denn beklemmendes Drama. Gillespie und die Oscar-nominierte Cutterin Tatiana Riegel inszenieren die Gewalt mit eingebauter humoristischer Katharsis – etwa, wenn die Mutter nonchalant den Küchenstuhl mitsamt der kleinen Tochter wegtritt oder die verprügelte Harding mit beissendem Kommentar in die Kamera blickt. Insbesondere Männer sind hier Witzfiguren und fast zu dumm, um echten Schaden anrichten zu können. Gillooly erscheint wie ein Forrest Gump der häuslichen Gewalt.
Herzloses Muttertier
Wie sehr die Macher sich in die vermeintliche Skurrilität gerade der Nebenfiguren verliebt haben, wird besonders bei LaVona deutlich. Sie könnte direkt einem Wes-Anderson-Film entstiegen sein. Janney gibt die Figur im räudigen Pelzmantel mit Sauerstoffschlauch in der Nase und Sittich auf der Schulter als eine Art Blofeld der weissen Unterschicht. Für sich genommen ist der Film witzig, bissig, mit hervorragenden Leistungen von Robbie und insbesondere Janney (beide sind für Darstellerinnen-Oscars nominiert). Er erhebt aber schon im Titel den Anspruch, etwas über die «reale» Tonya Harding zu erzählen. Dafür gibt Gillespie sie jedoch zu oft für einen Lacher preis und verliert die Figur vor allem in der zweiten Hälfte aus dem Blick.
In einer Version des Drehbuchs sollte der Film am Ende die gestürzte Eisprinzessin glücklich mit drittem Ehemann und Sohn zeigen. Das hätte aber nicht die gewünschte emotionale Wucht gehabt, hat Cutterin Riegel in einem Interview gesagt. Stattdessen entschieden sich die Macher für Harding als blutig geschlagene Celebrity-Boxerin im Ring vor johlender Menge. Harding sei eben eine Überlebenskünstlerin, erklärte Riegel das Ende. Anerkennung und Ausbeutung liegen bei «I, Tonya» dicht beieinander.
★★★☆☆
Bilder: DCM
Quelle: „Neue Zürcher Zeitung“ (22. Februar 2018), NZZ.ch
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.