„Neue Zürcher Zeitung“: Milko Lazarov erzählt in „Ága“ von einem alten Eskimo-Ehepaar. Fast könnte der Spielfilm eine Dokumentation sein. Das authentische Kino aber erschafft sich lieber seine eigene Realität.
Der Schnee knirscht, die Sonne blendet und nach wenigen Momenten befindet sich der Zuschauer in einer fremden Welt. Die wird ihm bald sehr vertraut sein. Beim Kino wird gern der Begriff „entführt“ benutzt, um die erzählerische Sogkraft dieser Kunstform zu umschreiben. Milko Lazarov nimmt mit seinem Spielfilm „Ága“ über ein altes Eskimo-Ehepaar (Mikhail Aprosimov und Feodosia Ivanova) aber keine Geiseln. Der bulgarische Regisseur nimmt den willigen Zuschauer vielmehr bei der Hand und setzt ihn sanft am anderen Ende der Erde ab. Dort, in der Eiswüste Sibiriens, webt der Filmemacher eine fiktive Geschichte, die sich realer anfühlt als so manche Dokumentation. „Ága“ ist ein wunderschönes Beispiel einer besonderen Art von Film. Nennen wir es den authentischen Spielfilm.
Fenster in fremde Lebenswelten
Jenseits des Polarkreises besitzen Namen eine besondere Kraft und Bedeutung. Das gilt für Lazarovs Protagonisten Nanouk („Bär“) gleich auf doppelte Weise. Sein Name verweist auf einen Meilenstein der Kinogeschichte. 1922 feierte der Dokumentarfilm „Nanook of the North“ über einen kanadischen Inuit und dessen Familie Premiere. Es war es zwar nicht die allererste abendfüllende Dokumentation der Kinogeschichte. Robert J. Flaherty gelang aber der erste internationale Kassenhit des Genres. Der Abenteurer zeigte staunenden Zuschauern von Kalifornien bis Berlin authentische Bewegtbilder aus einer Welt, die sie höchstens aus Erzählungen kannten.
Flaherty zeigte jedoch nicht nur. Er inszenierte. Das hat dem Regisseur früh den Vorwurf der Manipulation eingebracht. Nanook hieß eigentlich Allakariallak, seine Frau war nicht seine Frau. Der Inuit aus Québec ging längst mit Gewehr auf Walrossjagd, griff auf Geheiß des Regisseurs vor der Kamera aber zu traditionellen Waffen. Im Vorspann lässt Flaherty wissen, Nanook sei nach den Dreharbeiten verhungert. Auch das stimmt nicht. Und doch kam der angesehen US-Filmkritiker Rogert Ebert 2005 zu dem Schluss: „Nanook ist einer der lebendigsten und unvergesslichsten Menschen, die jemals gefilmt wurden.“
„’Nanook‘ ist kein Cinéma vérité“, räumte Ebert unter Verweis auf die Doku-Form hin. Und doch sei dieser inszenierte Film auf gewisse Weise „wahres“ Kino: „Der Film ist eine authentische Dokumentation, die ihre eigene Entstehung zeigt. Was auf der Leinwand geschieht, ist real, egal was hinter den Kulissen ablief.“ Flaherty gewann den Kritiker wie schon die ersten Zuschauer mit der Menschlichkeit seines Films. Die Fröhlichkeit der Inuit in einer ebenso schönen wie lebensfeindlichen Welt fasziniert bis heute. Der Zuschauer erkennt sich in den oberflächlich betrachtet so fremden Figuren wieder. Sie sind glaubwürdig, echt, wahr und führen den Betrachter deshalb zu sich selbst zurück – der Kern des authentischen Kinos. Seine Geschichten sind vielleicht nicht wahr, aber dafür wahrhaftig.
Zu Flahertys Verteidigung muss man sagen: Der Begriff „Dokumentation“ setzte sich wohl erst einige Jahre nach „Nanook of the North“ endgültig durch. Nach Ziehung der Grenzlinie zwischen inszenierter Fiktion und beobachteter Realität folgten Filmemacher Flahertys Suche nach konstruierter Wahrhaftigkeit, dieses Mal fest auf dem Boden des Spielfilms. Der Drang zur Authentizität bewegte Richard Linklater 2002 zu einem fast wahnwitzigen Entschluss. Der Texaner wollte einen Film über die Kindheit drehen, die zwölf Jahre von der Einschulung bis zum Studienbeginn. Anstatt für die Hauptrolle mehrere Darsteller unterschiedlichen Alters zu besetzen, drehte Linklater „Boyhood“ einfach über zwölf Jahre hinweg. Jedes Jahr entstand an ein bis drei Drehtagen ein neues Kapitel.
Eine höhere Realität
Der Filmemacher konzentrierte sich bei dem außergewöhnlichen Projekt auf die alltäglichen Geschichten von Mason (Ellar Coltrane) und dessen geschiedenen Eltern (Patricia Arquette, Ethan Hawke). Mason durfte seinen ersten Kuss oder seinen ersten Joint abseits der Leinwand erleben. Linklater konzentrierte sich lieber auf scheinbar banale zwischenmenschliche Momente. Auch das macht das authentische Kino aus. Es fesselt nicht mit Actionszenen, es will nicht im klassischen Sinn unterhalten. Es bildet das Kleine ab und hat dabei das große Ganze im Blick. „Natürlich“ ist daran aber selbstverständlich nichts.
„Du musst manipulativ sein, wie subtil auch immer du das anstellst“, sagte Linklater über seinen Beruf. Gefragt, ob nach „Boyhood“ der nächste logische Schritt eine Langzeitdokumentation sei, antwortete der Regisseur: „Das interessiert mich nicht.“ Er kreiert sich lieber seine Welt, zugleich voll und frei von künstlicher Dramaturgie.
Das authentische Kino findet seine Botschaft meist in seiner Menschlichkeit. Hier gibt es keine Lektion zu lernen. Manchmal ist aber gerade die Abwesenheit einer klaren Botschaft das Ziel. 2003 polarisiere Gus Van Sant mit seinem Palme-d’Or-Gewinner „Elephant“. Der Filmemacher zeichnete mit Laiendarstellern den Alltag an einer Highschool in den USA nach. Die Handlung folgt einigen Schülern durch ihren Tag. Zwei von ihnen begehen am Ende einen Amoklauf. Die Kamera ist ein unbeteiligter Beobachter. Sie verweigert die gewohnte dramatische Orchestrierung und Interpretation des Grauens. Zynismus oder Abbilden der Realität? Kritiker und Zuschauer waren gespalten.
„Nanook of the North“ stand noch voll im Leben. Lazarovs Nanouk ist in „Ága“ am Ende angekommen. Der einst wohlhabende Nomade ist einer der letzten seiner Art. Entbehrungen, aber auch Liebe prägen das Leben in seiner Jurte. Nur das Kind fehlt. Eines Tages macht sich der alte Mann auf in die Diamantmine, die seine Heimat vergiftet. Er will noch einmal seine Tochter sehen. Lazarov hat seinen Film nicht nach seinem Protagonisten benannt. Der trägt den Namen der Tochter. Ein neues Kapitel, eine neue Welt.
★★★★☆
Quelle: „Neue Zürcher Zeitung“ (8. November 2018) / NZZ.ch
Bilder: Neue Visionen Filmverleih
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.