Der Plan klingt größenwahnsinnig: Zwölf Jahre lang hat Richard Linklater an seinem Film „Boyhood“ über das Aufwachsen eines Jungen in Texas gedreht und dabei seine Schauspieler beim Älterwerden beobachtet. Das Ergebnis ist ein wahres Kinowunder.
Zeit ist in den Händen eines Filmemachers ein biegsames Element. Die Ereignisse auf der Leinwand können scheinbar in Echtzeit ablaufen oder aber mit dem Wurf eines Knochens in den Himmel Jahrtausende in die Zukunft springen. Zwei, drei Stunden Film bieten Raum für ein ganzes Leben oder auch nur einen kurzen Augenblick. Besonders das rasche Verstreichen der Zeit ist ein gewagtes Konstrukt. Der Gutgläubigkeit des Zuschauers wird einiges abverlangt, wenn der süße Knirps von eben plötzlich von einem pickeligen Halbstarken verkörpert wird, der ihm im besten Falle entfernt ähnlich sieht. Die Lösung für dieses Glaubwürdigkeitsproblem ist so simpel wie übergeschnappt.
Irgendwann nach dem Erfolg mit „Before Sunrise“ hatte Richard Linklater die Idee, einen Film über einen Jungen zu drehen. Es sollte ein Film über die Jugend werden, die vom Schulsystem gerahmten zwölf Jahre vom Ende der unschuldigen Kindheit bis zum Beginn des Studiums und dem Eintritt in die Erwachsenenwelt. Linklater wollte aber auch davon erzählen, wie schwer es Eltern haben, bei der Kindererziehung den richtigen Weg zu finden.
Alles auf eine Karte
Die übliche Methode wäre gewesen: Engagiere drei unterschiedlich alte Darsteller für die Figur des Jungen, lass‘ die Erwachsenen per Make-up altern und dann wird das schon. Was machte Linklater? Er drehte von 2002 bis 2013 jedes Jahr einige Tage und drückte sich fest die Daumen: dass keiner seiner Schauspieler von einem Auto überfahren wird oder irgendwann schlicht die Nase voll hat und dass sein Hauptdarsteller nach dem Ende der kindlichen Unbefangenheit überhaupt einen geraden Satz in die Kamera sprechen kann. „Es war ein großes Risiko. Ich habe aber darauf vertraut, dass es hinhauen würde“, sagte Linklater im Gespräch mit n-tv.de. Hingehauen hat es. Oder vielmehr: eingeschlagen.
Wir lernen Mason (Ellar Coltrane) als Sechsjährigen kennen. Man liest Harry Potter, hört „Yellow“ von Coldplay und benutzt Overheadprojektoren. Mason ist ein besonderer Junge – kein Wunderkind, aber eine alte Seele. Gern überlässt er seiner älteren und altklugen Schwester Samantha (gespielt von Linklaters Tochter Lorelei) das Scheinwerferlicht. Mutter Olivia (Patricia Arquette) ist bei der Kindererziehung ganz auf sich allein gestellt und bringt ihre Kleinfamilie mehr schlecht als recht durch. Sie beschließt, nach Houston zu ziehen und ihren Uniabschluss nachzuholen. Plötzlich steht auch wieder Mason Senior (Ethan Hawke) auf der Matte und will Papa spielen.
Und so vergehen die Jahre wie im Flug. Genauer gesagt lässt sich Linklater fast drei Stunden Zeit, Langeweile kommt aber nie auf. Dabei passiert genau genommen gar nicht viel. Gut, Mutter Olivias gleichbleibend mieser Instinkt bei der Männerwahl beschert Mason und Samantha zwei saufende Stiefväter plus eine ziemlich dramatische Fluchtaktion. Ansonsten plätschert das Leben aber dahin. Und das ist interessanter als so mancher Superhelden-Blockbuster, bei dem die Zukunft der Menschheit auf dem Spiel steht.
Ein diskreter Stalker
Was sich mit „Before Sunrise“, „Before Sunset“ und „Before Midnight“ angedeutet hat, wird mit „Boyhood“ Gewissheit: Richard Linklater ist ein wahnsinnig diskreter Stalker. Zwar verfolgt er seine Figuren gnadenlos, lässt ihnen aber auch ihre Geheimnisse. Mit Jesse und Celine gab es nur etwa alle zehn Jahre ein dialoglastiges Wiedersehen, bei dem Zwischenbilanz gezogen wurde. Dieses Mal bleibt Linklater zwar ungleich näher an der Geschichte dran, lässt seine Charaktere dafür aber auch mehr leben und wühlt weniger wortreich in ihrer Gefühlswelt herum.
Die üblichen Fixpunkte von Coming-of-Age-Filmen geschehen in „Boyhood“ abseits der Kamera: Masons erster Kuss, sein erstes Bier, der erste Joint, das erste Mal Sex – dem Regisseur geht es nicht ums Abhaken allgemein anerkannter Meilensteine, sein Blick ist fest auf das große Ganze gerichtet. Und so sind die wirklich prägenden Beziehungen, die Beiläufigkeit, mit der Kinder traumatische Ereignisse scheinbar abhaken, oder ein im Grunde banales Gespräch mit einem Mädchen, vielleicht erinnerungswürdiger als der erste Knutschversuch.
Dass dieses Langzeitprojekt ein solcher Triumph geworden ist, für den es bei der diesjährigen Berlinale den Silbernen Bären für die beste Regie gab, liegt natürlich auch an den herausragenden Schauspielern, allen voran Ellar Coltrane, der als Kind wie als junger Mann mühelos alle Blicke auf sich zieht. Der Erfolg des Films sagt aber auch viel über das Ausmaß von Linklaters Ego aus. Der Regisseur ist nicht einfach ein total lieber Kerl, der geduldig jedes Jahr die Kamera ausgepackt und das Beste gehofft hat. Er hatte einen festgelegten Plan und hat ihn im Großen und Ganzen über zwölf Jahre lang durchgezogen. „Schlechte Eigenschaften sind wichtig“, hat der 53-Jährige verraten und sich freimütig zu den despotischen und manipulativen Qualitäten seines Berufs bekannt, die aber eben über Erfolg oder Scheitern entscheiden.
Spannung ohne Höhepunkt
Ein weniger von seinen eigenen Fähigkeiten überzeugter Regisseur hätte vermutlich nach zwölf Jahren bestenfalls vor einem Berg an Anekdoten gestanden – oder gleich einen Langzeit-Dokumentarfilm gedreht. Ein Vorhaben, das Linklater nicht im Geringsten reizt. Er konstruiert sich lieber eine Welt, realer als die Wirklichkeit, zugleich voll und frei von künstlicher Dramaturgie. Für sich genommen sind die einzelnen Jahresabschnitte banal. Aneinandergefügt ergeben sie ein fast schon hypnotisches Werk, das die bewährte Drei-Akte-Struktur der meisten Filme mit Einleitung, Höhepunkt und Auflösung außer Kraft setzt.
An eine mögliche Fortsetzung der „Before“-Serie oder von „Boyhood“ mag Linklater momentan nicht denken. Sein Stalker-Gen kann er aber nicht völlig verleugnen und so gibt er zu: „In gewisser Weise bin ich mit ‚Boyhood‘ jetzt an der Stelle, wo ich unmittelbar nach ‚Before Sunrise‘ war. Damals hatte ich auch nicht gedacht, dass ich zu der Geschichte zurückkehren würde.“ So fällt zwar der Abschied von Mason und seiner Familie schwer. In irgendeiner cineastischen Parallelwelt leben sie aber weiter und warten nur auf einen Film mit dem Titel „Adulthood“.
Mein Interview mit Richard Linklater
(Bilder: Universal Pictures)
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