„Der große Trip – Wild“: Lauf, Reese, lauf!

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Gute Rollen sind für Schauspielerinnen immer noch Mangelware. Reese Witherspoon produziert daher einfach ihren eigenen Film und begibt sich auf einen USA-Gewaltmarsch. Ein Selbstfindungstrip mit Oscar-Chance und ein großer Gewinn für die Zuschauer.


Mit der wahren Geschichte einer Frau, die nach mehreren Schicksalsschlägen eine brutale 2000 Kilometer lange Wanderung auf sich nimmt, ist Reese Witherspoon auf dem besten Wege zu ihrer zweiten Oscar-Nominierung. Die Kandidaten für die Preisverleihung werden just zum Start von „Der große Trip – Wild“ am Donnerstag bekannt gegeben. Die 38-Jährige gilt nicht nur deshalb als sichere Anwärterin, weil die Academy auf realen Begebenheiten basierende Geschichten mit erhebenden Happy Endings nach unsäglichen Qualen liebt. Witherspoons Darstellung ist direkt, unprätentiös, mutig und wahrhaftig, mit Abstand die beste Leistung ihrer Karriere. Auch hinter den Kulissen hat die Hauptdarstellerin endlich selbst die Fäden in der Hand.

„Wild“ basiert auf den Bestseller-Memoiren von Cheryl Strayed. Die hatte 1995 mit 26 Jahren die Reißleine gezogen und war ohne jede Wandererfahrung zu dem Trip entlang der Westküste der USA aufgebrochen. Eine gleichermaßen lebensgefährliche wie vermutlich lebensrettende Extremerfahrung: Nach der Kindheit mit einem gewalttätigen Vater und dem plötzlichen Krebstod ihrer geliebten Mutter (Laura Dern) ist Cheryl in eine selbstzerstörerische Spirale aus Heroin und zwanghaften Seitensprüngen geraten. Ihr Ehemann reicht schließlich die Scheidung ein. Der erneute Verlust eines geliebten Menschen öffnet der jungen Frau die Augen, dass sich grundlegend etwas ändern muss.

Spontan beschließt Cheryl, fast 2000 Kilometer auf dem Pacific Crest Trail zu wandern. Ihre Reise beginnt in der Gluthitze der kalifornischen Wüste und endet rund drei Monate später im tief verschneiten Norden an der kanadischen Grenze. Sie begegnet Seelengefährten, Spaßtouristen und potenziellen Axtmördern. Im Kampf gegen Hunger, Durst, eiternde Wunden und die Einsamkeit stellt sich Cheryl mit jedem Schritt mehr den Dämonen ihrer Vergangenheit und ihren eigenen Sündenfällen.

Eine Rolle mit Symbolkraft

2006 hatte Witherspoon einen scheinbar ultimativen Triumph gefeiert, als sie für ihre Darstellung von Johnny Cashs Ehefrau June in „Walk the Line“ den Oscar erhielt. Damals war auch der Umstand gewürdigt worden, dass die zierliche und scheinbar allzeit fröhliche Südstaaten-Schönheit sich mit dem düsteren Drama an einen für sie untypischen Stoff gewagt hatte. Doch erst jetzt scheint Witherspoon so richtig zur Herrin ihres Handwerks und ihrer Karriere geworden zu sein. War June in erster Linie durch die Beziehung zu ihrem Mann definiert, ist Cheryl eine gänzlich selbstbestimmte Frau – im Guten wie im Schlechten.

der grosse trip

Es war naheliegend, dass sich die Produzentin und Hauptdarstellerin von diesem Thema angesprochen fühlte. Witherspoon war nach eigenem Bekunden jahrelang unsicher, welche Art von Rollen und Karriere sie eigentlich anstrebte. Seit dem Durchbruch als pink-patente Anwaltsbarbie in „Natürlich blond!“ war sie auf den Typ der zuckersüßen Blondine festgelegt und damit sehr gut gefahren. Vor etwa drei Jahren nahm sie schließlich ihr berufliches Schicksal selbst in die Hand und gründete eine Produktionsfirma, um interessantere Frauenfiguren auf die Leinwand zu bringen.

Und so kommt es, dass Witherspoon mit fast 40 Jahren erstmals vor der Kamera in sehr freizügigen Sexszenen zu sehen ist. Eine derart ungewohnte und furchteinflößende Erfahrung, dass sie während der Proben nahezu in Schockstarre verfiel. Nicht viel leichter wurde es während der Dreharbeiten in der Wüste, bei denen der Hollywoodstar schon mal mit 30 Kilo Gepäck auf dem Rücken wiederholt auf einen Berg rennen musste.

Was McConaughey kann …

Bei der Mischung aus Aussteigerromantik, Pilgerweg, Selbstfindungsdrama und Extremtourismus hat sich Witherspoon mit einem erstklassigen Team umgeben. Regisseur Jean-Marc Vallée hatte bereits der männlichen Klischee-Blondine Matthew McConaughey mit dem Aids-Drama „Dallas Buyers Club“ einen Oscar und eine ganz neue Karriere beschert. Auch bei „Wild“ vermeidet der Kanadier offensichtliche Klischees. Er lässt den Film fließen und atmen und spiegelt damit auch den Ton des Buchs wider. Die Memoiren Cheryl Strayeds wurden von Erfolgsschriftsteller Nick Hornby („About a Boy“) für die Leinwand adaptiert. Bereits mit „An Education“ hatte der Brite sein Talent bewiesen, das bewegte Leben einer realen Frau auf Kinoformat zu bringen.

Manchmal lässt sich Witherspoon dann aber doch noch von Hollywoods Männerriege ausbremsen. Sie hatte sich die Rechte an Gillian Flynns Thriller „Gone Girl“ gesichert und fungierte bei der Verfilmung durch David Fincher als Produzentin. Eigentlich hatte sie die Hauptrolle der Amy spielen wollen. Der mächtige Fincher legte jedoch sein Veto ein, Witherspoon verbiss sich brav alle Wiederworte und Rosamund Pike erntete völlig verdient Lobeshymnen für ihre Darstellung der eiskalten Anti-Heldin. Dennoch hätte es für Witherspoon die Rolle ihres Lebens werden können. Schon 1999 hatte sie als psychopathische Streberin in der tiefschwarzen Schulkomödie „Election“ bewiesen, dass sich hinter der süßen Fassade ein knallharter Wille verbergen kann. Wie schon bei den Golden Globes am Sonntag dürfte Witherspoon zwar auch bei der Oscar-Verleihung Kollegin Julianne Moore („Still Alice“) unterliegen. Mit „Wild“ hat sie aber endgültig ein neues und aufregendes Kapitel aufgeschlagen.

„Der große Trip – Wild“ kommt am 15. Januar in die deutschen Kinos.

Quelle: n-tv.de

(Bilder: Twentieth Century Fox)