Die Renaissance des Horrors

HEREDITARY_milly shapiro-Splendid Film„Neue Zürcher Zeitung“: Das Horrorgenre ist so erfolgreich wie nie. Filmemacher setzen dabei vermehrt auf sozial relevante Themen und treffen den Geschmack des Massenpublikums.


Hollywood hat ein Horrorjahr hinter sich – und die Branche freut es. Gruselfilme haben 2017 an den Kinokassen so viel Geld eingespielt wie in keinem Jahr zuvor. Das ergaben Berechnungen der «New York Times». Die langerwartete Kinoadaption von Stephen Kings Kultroman «It» war massgeblich für die Bilanz verantwortlich. 2017 brachte aber mit «Get Out» auch einen eher unerwarteten Erfolg des Genres. Dieser Film wagte sich nach Obamas Präsidentschaft und im Kontext der «Black Lives Matter»-Bewegung aus afroamerikanischer Sicht an die Themen Rassismus und Assimilation. In Zeiten einer unerbittlichen Informationsflut erhob jüngst der Überraschungshit «A Quiet Place» Schweigen zum Überlebensprinzip. Der jetzt in den Kinos anlaufende Film «Hereditary» (siehe Zusatztext) wird von vielen Kritikern als Meisterwerk des Genres gefeiert. Das Horrorkino ist gesellschaftlich relevant wie lange nicht mehr.

Unheimliche Filme kommen natürlich nie aus der Mode. Gerade aber scheinen sie wieder besonders viel über die heutige Welt zu sagen und treffen damit beim Publikum einen Nerv. Der Branchendienst «Deadline» würdigte «Get Out» als ungewöhnlichen Meilenstein: Vorher sei ein Film undenkbar gewesen, in dem am Ende ein schwarzer Mann eine weisse Familie töte – «selbst wenn sie abgrundtief böse ist». In Jordan Peeles Regiedebüt macht der Held (Daniel Kaluuya) eine grausige Entdeckung: Die scheinbar so liberale Familie seiner weissen Freundin (Obama-Wähler!) kidnappt junge Afroamerikaner und verpflanzt in ihre Köpfe die Gehirne alter Rassisten.

Der Film lasse seine tiefsten Ängste als schwarzer Mann in Amerika Realität werden, sagte Peele. Der Regisseur sah das Genre zuvor komplett in weisser Hand: «Als Afroamerikaner habe ich niemals einen Horrorfilm aus meiner Perspektive gesehen.» Peele gelang das Kunststück, einen signifikanten Film über Rassismus zu drehen, dabei aber gut zu unterhalten. Der Lohn: «Get Out» spielte in den USA 176 Millionen Dollar ein. Das macht den Film nach «It» und dem Klassiker «The Exorcist» zum erfolgreichsten Horrorfilm mit der strengen Altersfreigabe R aller Zeiten. Peele wurde 2017 als erster Afroamerikaner mit einem Oscar für das beste Originaldrehbuch ausgezeichnet.

Insbesondere das Horrorgenre wird gern als Spiegel des Zeitgeistes betrachtet. Die poppigen achtziger Jahre liessen Sensenmann Freddy Kruger («A Nightmare on Elm Street») auf Teenager los. Das 20. Jahrhundert verabschiedete sich mit dem digital-minimalistischen «Blair Witch Project». Der Gruselfilm befriedigt auch Gelüste, die andernorts im Kino gerade keinen Platz finden. Extreme Emotionen ermöglichen eine Triebabfuhr, die nach dem Blutbad bestenfalls in Katharsis mündet. Das macht Horror derzeit zum Gegenentwurf zur blutleeren Gewalt in Superhelden-Blockbustern. Im jüngsten «Avengers»-Film lösen sich etliche der Hauptfiguren am Ende in Staub auf. Im Horrorfilm wird hingegen ordentlich gestorben.

Genre der Traum-Gewinnmargen

Dabei sind Horror und Comic-Verfilmungen natürliche Weggefährten. Die einst dominante Budget-Mittelklasse Hollywoods ist wegen des finanziellen Risikos seit gut zehn Jahren in der Krise. Die Studios setzen vorrangig auf extrem teure oder sehr günstige Produktionen. Da passt Horror gut ins Konzept. Angst spielt sich im Kopf ab und ist deshalb billig zu haben. Eine zündende Idee plus ein tolles Postermotiv können für einen globalen Kassenhit ausreichen – ganz ohne prominente Namen vor oder hinter der Kamera. Bestes Beispiel: «Paranormal Activity» kostete 15 000 Dollar, spielte 193 Millionen Dollar ein und gilt mithin als der vielleicht profitabelste Film aller Zeiten. Von solchen Gewinnmargen können selbst die Marvel-Studios nur träumen.

Nicht immer muss die soziale Botschaft so ehrgeizig sein wie bei «Get Out». Schauspieler John Krasinski bot in seiner zweiten Regiearbeit «A Quiet Place» in einer zunehmend komplexen Welt ein klares Feindbild: Mörderische, hellhörige Aliens, die Jagd auf eine im Wald lebende Familie machen. Der Film (Kosten: 17 Millionen Dollar, Einspielergebnis: 331 Millionen Dollar) stellte Zuschauer jedoch auf andere Weise vor eine ungewohnte Herausforderung. Über weite Strecken herrscht Stille.

Erhebt «A Quiet Place» die Familie zur Überlebensgemeinschaft in einer feindseligen Welt, wird sie in Ari Asters «Hereditary» zur tödlichen Falle. Nach dem Debüt beim Sundance Filmfestival überschlugen sich die amerikanischen Kritiker mit Lob für den Horrorfilm, priesen ihn als Meisterwerk, vergleichbar mit «Rosemary’s Baby» oder «The Shining».

Das breite Publikum in den USA sah das anders. «Hereditary» bekam in der Zuschauerbefragung des Meinungsforschungsinstituts CinemaScore nur die Note «ausreichend». Auf der Website der Filmdatenbank IMDb.com beschwerten sich Horrorfans über eine lahme Handlung und warfen den Kritikern pseudokünstlerischen Elitismus vor. Die wiederum versuchten, die Diskrepanz mit dem vermeintlich simplen Appetit der Anhänger des Horrorgenres zu erklären. Wovor wir uns gruseln (wollen), ist eine zutiefst persönliche Frage. Das macht die Rezeption des Horrorfilms zum Spiegelbild gesellschaftlicher Spannungslinien.



HEREDITARY_ToniCollette-Splendid Film

Kritik: «Hereditary»

Die Künstlerin Annie (Toni Collette) lebt mit Ehemann und zwei Kindern in einem prächtigen Holzhaus am Waldrand. Als ihre geheimnisumwitterte Mutter stirbt, bekommt die Idylle Risse. Die kleine Tochter Charlie (Milly Shapiro), der Liebling ihrer Grossmutter, legt zunehmend bizarres Verhalten an den Tag. Dann ereignet sich eine unerträgliche Tragödie. Die Fluttore sind geöffnet. Das Grauen hält Einzug.

«Hereditary» beginnt als faszinierendes Psychogramm einer Familie im Schraubstock der Trauer und der Schuld. Im letzten Akt ändert sich der Ton schlagartig. Ari Aster setzt in seinem Spielfilmdebüt zu einem wilden Ritt ins Terrain von «The Exorcist» und «Carrie» an. Der Bruch ist extrem, vielleicht bedauernswert, aber konsequent. Der Regisseur folgt einer Spirale des Genres vom Alltag ins Übernatürliche. Dabei beweist er eine Stilsicherheit, die «Hereditary» neben der Leistung von Collette und Shapiro zu einem denkwürdigen Horrorfilm macht.

★★★★☆

Quelle: „Neue Zürcher Zeitung“ (19. Juli 2018) / NZZ.ch

Bilder: Splendid Film