„Neue Zürcher Zeitung“: Ari Aster gelang mit „Hereditary“ ein meisterhafter Horrorfilm über Familie und Schuld. Nun feiert er unter der Sonne Schwedens ein heidnisches Schlachtfest. Danach wird die Ikea-Idylle nie mehr dieselbe sein.
Ari Aster liefert mit „Midsommar“ einen grellen Nachfolger seines erfolgreichen Debüts „Hereditary“. Es war eine ehrgeizige Idee, einen Horrorfilm in die ewige Helligkeit der skandinavischen Sommersonnenwende zu verlegen. Der natürliche Lebensraum des Genres ist schliesslich die Finsternis. Visuell geht die Rechnung auf. Selten waren Sonnenstrahlen so beklemmend, bunte Blumen, Sommerkleider und Kinderlachen derart furchteinflössend. „Midsommar“ erweist sich dabei als unerwartet perfekte Symbiose von Horror und Instagram-Ästhetik. Dem wohnt ein besonderer Schrecken inne.
Aster spielt in seinem zweiten Film mit ähnlichen Themen wie in seinem Erstlingswerk. Erneut bereitet Trauer den Boden für ein übersinnliches Crescendo des Terrors am Waldesrand. Dieses Mal ist es die junge US-Amerikanerin Dani (Florence Pugh), die eine grausame Familientragödie verarbeiten muss. Da kommt das Angebot ihres Freundes Christian (Jack Reynor) genau recht, mit einer Gruppe von Ethnologiestudenten zum Mittsommerfest nach Schweden zu reisen.
Die Besucher werden herzlich von der abgeschiedenen Dorfgemeinschaft empfangen. Die huldigt aber keiner harmlosen Folklore. In der Ikea-Bullerbü-Idylle mit Kehlkopfgesang und Blumensteckkunst entspinnt sich ein alle 90 Jahre stattfindendes Ritual. Als es die ersten Todesopfer gibt, üben sich die Ausländer noch in Toleranz. Dann aber wird klar: Sie sind nicht zufällig hier.
Zwei Seiten des Horrors
Aster verfolgt mit seinen Filmen trotz einiger Parallelen zwei grundverschiedene Herangehensweisen an den Horrorfilm. In „Hereditary“ übte sich der Newcomer in effektiver Zurückhaltung. Er zeigte den furchtbaren Unfalltod eines kleinen Mädchens nicht direkt. Die Kamera blieb fest auf ihren traumatisierten Bruder gerichtet. „Midsommar“ hingegen ist im wahrsten Sinne ein Splatterfilm. Der Zuschauer wird ganz nah heran gezerrt, wenn Köpfe aufplatzen oder Schweden beseelt das letzte Quäntchen Leben aus einem alten Körper prügeln.
Das klingt jetzt fast schlimmer, als es ist. Nach dem ersten und zweiten Schock verliert das Tabu seinen Schrecken, gleitet Abscheu teils in Komik ab. Eine rituelle Opferung im Steinbruch erinnert da womöglich an die Steinigungsszene aus Monty Pythons „Life of Brian“. In anderen Momenten wäre es durchaus vorstellbar, würde hinter der nächsten Tür eine Orgie à la „Eyes Wide Shut“ zelebriert.
Die Empfehlung an Kinogänger ist simpel. Wem der letzte Akt von „Hereditary“ mit dem Abgleiten in skurrilen, heidnischen Horror gefiel, für den erweist sich „Midsommar“ als Füllhorn schrecklich origineller Ideen. Wem das hingegen damals alles schon zu viel war, für den dürften die jetzt fast zweieinhalb Stunden Laufzeit eine Geduldsprobe darstellen.
Instagram-Ästhetik für Rattenfänger
Aster hat mit dem Film eine schwierige Trennung verarbeitet. Im Gegensatz zu „Hereditary“ sind die zwischenmenschlichen Beziehungen dieses Mal allerdings zu wenig ausgeprägt, um dem Horror zusätzlich Tiefe zu verleihen. Interessant wird das Drama allerdings vor dem Hintergrund des internationalen Reisebooms, der massgeblich von Instagram angefacht wurde.
Die Reisenden im Film und häufig auch im wahren Leben treibt angeblich die Suche nach anderen Kulturen und vermeintlich ursprünglichen Erlebnissen. Was sie jedoch in Wahrheit erwarten, ist die Manifestation der inszenierten, geschönten Abziehbilder des Fremden. Gut möglich, dass Asters Horrorfilm paradoxerweise so manchen „Insta Traveller“ nach Schweden lockt. Dabei gleicht „Midsommar“ fast einer Globalisierungswarnung Grimm’scher Prägung: Kinder, warum in die Ferne schweifen? Dort ist es nur noch schrecklicher als daheim.
Quelle:
„Neue Zürcher Zeitung“ (3. Oktober 2019) / NZZ.ch
Bilder:
Weltkino Filmverleih GmbH/Courtesy of A24
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.