Bill Murray ist schwer zu fassen

„Neue Zürcher Zeitung“: Bill Murray ist schwer zu fassen. Das gilt für Regisseure und für das Publikum. Fans verehren den „Ghostbusters“-Star fast als Hollywood-Heiligen. Aber vielleicht ist das zu schön um wahr zu sein.


Wer Bill Murray will, muss auf einer kostenfreien Hotline eine Nachricht hinterlassen. Wann er den Anrufbeantworter abhört – man weiss es nicht. Hat Murray schliesslich zugesagt, fängt das Bangen erst an. Der Schauspieler unterzeichnet selten Verträge. „Lost in Translation“-Regisseurin Sofia Coppola war unmittelbar vor dem Drehstart in Tokio nicht sicher, ob ihr Hauptdarsteller erscheinen würde. Wes Anderson beruhigte die zunehmend verzweifelte Kollegin: Auf Murrays Wort ist Verlass.

Wandler zwischen den Welten

Anekdoten wie diese nähren das Enigma Bill Murray. Der Komiker, der am Montag 70 Jahre alt wird, ist buchstäblich schwer greifbar, scheint nicht gänzlich von dieser Welt zu sein. Dabei hilft, dass sich der Schauspieler rar macht. Hauptrollen und öffentliche Auftritte sind selten, dasselbe gilt für Einblicke ins Privatleben. Bleibenden Eindruck hinterlassen stattdessen die in ihrer Normalität fast schon surrealistischen Begegnungen mit Fans. Murray platzt in Hochzeitsfeiern oder Karaokeabende, teilt Lebensweisheiten und verschwindet so plötzlich wie er aufgetaucht war. Dieser Weltstar ist gleichermassen entrückt und greifbar, die perfekte Mischung für eine moderne Popkultur-Ikone. Fans entzünden ihre Bill-Murray-Votivkerzen nur halb ironisch.

Dass all das möglich war, verdankt Murray einer einzigen Rolle: Geisterjäger Peter Venkman in „Ghostbusters“ (1984). Die Bedeutung des Films lässt sich im Dunst des Retrokults leicht übersehen. „Ghostbusters“ ist in den USA die erfolgreichste Komödie aller Zeiten. In der Datenbank von BoxOfficeMojo reicht ihr inflationsbereinigtes Einspielergebnis für einen Platz direkt hinter „Avengers: Infinity War“. Beinahe wäre es allerdings ganz anders gekommen.

Venkman sollte ursprünglich von John Belushi gespielt werden. Nach dessen Drogentod drängte Drehbuchautor Dan Akroyd seinen Freund Murray, die Rolle zu übernehmen. Der war aber bereits damals berühmt-berüchtigt dafür, sich nicht festzulegen. Ausserdem wollte Murray seiner Karriere eine neue Richtung geben. Er war als mittleres von neun Geschwistern in einem Vorort von Chicago aufgewachsen. Das Geld der irisch-katholischen Familie war knapp, sein Vater starb, als er 17 Jahre alt war. Murray wurde Mitglied der Comedy-Truppe The Second City. 1977 feierte er neben Akroyd in der TV-Show „Saturday Night Live“ seinen Durchbruch. Schnell folgten erste Kinoerfolge wie „Caddyshack“ und eine Nebenrolle in „Tootsie“.

Murray strebte aber nach vermeintlich Höherem. Mit der Verfilmung von William Somerset Maughams Roman „The Razor’s Edge“ wollte er erstmals in einer ernsten Rolle glänzen. Allerdings war das Prestigeprojekt mit Dreh in Indien sehr teuer. Columbia Pictures machte einen Deal mit Murray, der natürlich nicht schriftlich fixiert wurde: Das Studio finanzierte das Drama, dafür gab Murray dem Werben Akroyds nach. „Ich stehe in seiner Schuld“, sagte Murray später. Denn „Razor’s Edge“ floppte, „Ghostbusters“ schrieb Filmgeschichte.

Mit „Groundhog Day“ (1993) bewies Murray der Welt und vielleicht auch sich selbst, dass er für den Titel „Charakterdarsteller“ kein Historiendrama brauchte. Die Parabel über einen zynischen Wettermann, der in einer Zeitschleife gefangen seine Menschlichkeit entdeckt, ist ein Meisterwerk der Nuancen und Facetten. 2006 wurde die Komödie in die Filmbibliothek der Library of Congress aufgenommen.

Zweite Karriere als Indie-Muse

Nach „Groundhog Day“ stagnierte Murrays Karriere jedoch. Dann traf einer der bestbezahlten Schauspieler Hollywoods – er hatte für den Weihnachtsfilm „Scrooge“ (1988) sechs Millionen US-Dollar (heute rund zwölf Millionen Schweizer Franken) erhalten – eine der besten Entscheidungen seines Lebens: Er arbeitete quasi umsonst. Die Dialoge in „Rushmore“ (1998) waren so hervorragend, dass Murray dem Werben des Nachwuchstalents Wes Anderson nicht widerstehen konnte. Der Regisseur hat seitdem keinen Langfilm ohne Murray gedreht, darunter „The Life Aquatic with Steve Zissou“.

Der Status als Zentralgestirn in Andersons skurriler Kino-Traumwelt hat die zweite Hälfte von Murrays Karriere geprägt. So sehr, dass Fans zunehmend Probleme hatten, Leinwand-Persona und den „echten“ Star auseinander zu halten. Sofia Coppola vollendete die Kunstfigur Bill Murray mit „Lost in Translation“ (2003). Die Rolle des desillusionierten Hollywoodstars in Tokio war ihm von der glühenden Anhängerin auf den Leib geschrieben worden. Monatelang hinterliess die Newcomerin auf Murrays Hotline Nachrichten, bis er sie erhörte. Der Lohn: Der größte künstlerische Erfolg seiner Karriere und die bislang einzige Oscar-Nominierung (er unterlag Sean Penn in „Mystic River“).

Manchmal spielt Murray einfach gleich sich selbst, etwa in Jim Jarmuschs „Coffee & Cigarettes“ oder der Satire „Zombieland“. In ihr wird er kurz vor seinem Tod gefragt, ob er etwas im Leben bereue. „Vielleicht ‚Garfield’“, lautet die Antwort. Das ein Jahr nach „Lost in Translation“ veröffentlichte CGI-Desaster ist zum Running Gag in Murrays Karriere geworden. Er verkauft es als amüsanten Irrtum und erklärte in Interviews wiederholt, er habe Drehbuchautor Joel Cohen mit Oscar-Preisträger Joel Coen verwechselt.

Bill Murrays dunkle Seite

Glatt gelogen, um sein Image zu wahren, konterte „Garfield“- und „Toy Story“-Drehbuchautor Alec Sokolow während einer Fragerunde Murrays auf Reddit. Das Verhalten sei bezeichnend. „Ich mag ihn als Schauspieler, aber die Arbeit mit ihm war grauenhaft“, sagte Sokolow über den „schwierigen und unangenehmen Zeitgenossen“.

Tatsächlich gibt es in Hollywood nicht nur Murray-Fans. Seit Jahrzehnten kursieren Geschichten über Wutausbrüche, Respektlosigkeit, notorisches Zuspätkommen. Selbst sein alter Freund Harold Ramis wurde Opfer des „Murricane“. Bei den Dreharbeiten von „Groundhog Day“ gerieten Regisseur und Star derart in Streit, dass Murray jahrzehntelang den Kontakt abbrach. Erst unmittelbar bevor Ramis 2014 an den Folgen einer Autoimmunkrankheit starb, stand der Komiker eines frühen Morgens mit Donuts vor der Tür.

Für negative Schlagzeilen sorgte auch die Scheidung von seiner zweiten Ehefrau Jennifer Butler. Die „Groundhog Day“-Kostümbildnerin bezichtigte Murray 2008, alkoholabhängig und gewalttätig zu sein. Er liess die Vorwürfe unkommentiert, aber sagte der Nachrichtenagentur The Associated Press kurz darauf: „Das war das Schlimmste, was mir je passiert ist.“ Murray hat sich seitdem nicht mehr mit einer Frau an seiner Seite gezeigt. Das wäre zwar schön, aber er sei nicht einsam, sagte er 2014 dem Moderator Howard Stern.

Die Hotline war übrigens lange Zeit selbst für gute Freunde der einzige Weg, Murray zu erreichen. Die ständig klingelnden Festnetztelefone in seinen Häusern in New York und South Carolina sind abgestellt, der Schauspieler schreibt ungern E-Mails, hat keinen Manager oder Agenten. Mit mit Mitte 60 legte sich Murray dann tatsächlich sein erstes Handy zu: Ein altes Blackberry, um mit seinen sechs Söhnen in Kontakt zu bleiben. Die direkte Kommunikation war allerdings komplizierter als gedacht. Er schreibe seinen Kindern notgedrungen Textnachrichten, erklärte Murray „Variety“: „Sie gehen nicht ans Telefon.“ Von wem sie das wohl haben.

Quelle: „Neue Zürcher Zeitung“/NZZ.ch (21. September 2020)

Bild: Flickr/Paul Sherwood/CC BY 2.0